Ich sitze zuhause und versuche einzuordnen was gerade passiert. Dabei konzentriere ich mich auf die Wirtschaft, von Gesundheitsfragen verstehe ich noch viel weniger. Aber eigentlich sitze ich nur vor einer völlig chaotischen Ansammlung von Links, Notizen und Zeitungsauschnitten. Besonders in ausserordentlichen Situationen hilft mir allerdings schon das Sammeln, oder es beruhigt wenigstens. Ich könnte später all das in Ruhe nachlesen, was in der Realität viel zu schnell abläuft. Ich habe solche Sammlungen bis zurück in die 70er Jahre, darum weiss ich jedoch, dass ich nie alles lesen werde.
Für die aktuelle dramatische Wirtschaftskrise finde ich schwer Erfahrungswerte. Und doch kommt die Situation nicht unerwartet und nicht allein wegen dem Virus. Meine Anknüpfungspunkte gehen zurück bis in die 1980er Jahre.
Ein Weltkongress in Bern
Der Weltkongress der Wirtschaftshistorikerinnen und – historiker tagte 1986 in Bern im Casino und kam zum Schluss: Die Laissez-faire Politik der 20er Jahre wurde beim grossen Crash von 1929 durch ein System ersetzt, in welchem der Staat eine wesentlich aktivere Rolle spielte. Doch in den 1980er Jahren begann eine neue Welle von Deregulierung, Staatsabbau und Liberalisierung der Kapitalmärkte. Der Kongress warnte deshalb vor der Gefahr einer neuen Weltwirtschaftskrise: „it can happen again“. Doch niemand wollte das hören, auch beim Crash 1987 nicht, im Gegenteil wurden seither fast alle Lehrstühle in Wirtschaftsgeschichte aufgehoben und das Bundesamt für Konjunkturfragen auch gleich aufgelöst. Die Zeit gehörte den neuen Finanzjongleuren, in der Schweiz den Werner K. Reys, Ebners, Blochers. Nach der Finanzkrise 2008 meinte ein gewisser Nationalrat Schneider-Amman: „Egoismus und Geldgier führen in die Katastrophe. Jetzt sind wir da“, und CVP-Nationalrat Edgar Oehler: „Die Realwirtschaft ist in Geiselhaft der Finanzwirtschaft und ihrer Habgier geraten“. Zwar hat der Bund damals 60 Milliarden zur Rettung der UBS aufgewendet, aber weiter nichts unternommen, um die Realwirtschaft aus der Geiselhaft zu befreien. Bei den Aktienkursen ging es weiter aufwärts, bei Steuern, sozialer Sicherheit und Gesundheitswesen sowie Staatsausgaben abwärts. Vor drei Jahren schrieben selbst Ökonomen des Internationalen Währungsfonds, die Kürzung von Sozialausgaben und die freien Kapitalmärkte seien nicht die Heilsbringer für Wachstum. Anfang 2020 hat dann auch Kristalina Georgieva, die neue Chefin des IWF, eindringlich für ein Umdenken plädiert.
Sorglosigkeit
Am 15. Januar 2020 führten wir im Polit-Forum Bern eine Veranstaltung mit der Nationalbank zu den Negativzinsen durch, den „fünfjährigen Ausnahmezustand“, wie die NZZ das nannte. Doch niemand interessierte sich für diese Zusammenhänge. Auch zwei der übrig gebliebenen Konjunkturbeobachter des Bundes gaben sich beim Apero unbesorgt. Als ich daraufhin beschloss eine Veranstaltung zu Börsensturz und Wirtschaftskrise zu planen, scheiterte ich schon mit der ersten Anfrage bei einem Moderator: Ob ich nicht etwas übertreibe?
Die Geldpolitik hatte in den letzten Jahrzehnten vieles ausgebügelt – zuletzt die Probleme aber auch verschärft. Die ungebremst steigenden Aktienkurse hatten den Blick auf die vielen prekären Arbeitsverhältnisse, die schwindenden Möglichkeiten öffentlicher Einrichtungen und die Verletzlichkeit des Wirtschaftssystems vernebelt. Schliesslich wurde das sogar der NZZ nicht mehr geheuer und sie beschrieb am 17. Februar 2020 eine noch nie gesehene, völlig verrückte Marktsituation. Aber noch am 10. März führten die meisten Wirtschaftsbeobachter den Absturz der Börsen auf den Preiskrieg ums Erdöl zurück.
Weichen werden gestellt
Nun, wo die Geldpolitik kaum mehr helfen kann, sind die 42 Milliarden Franken, welche der Bund bereitstellen will, absolut zentral zur Sicherung der Löhne und der Unternehmen in der nächsten Zeit. Doch was kommt danach? Jetzt werden die Weichen gestellt, und die Gefahr besteht, dass Bund und Politik einfach mehr von den Rezepten der letzten Jahre anwenden. Die Schuldenbremse wird nicht aufgehoben: Der Bund wird seine Milliarden wieder einsparen wollen, womit ein weiterer Sozialabbau droht. Die Banken vergeben rückzahlungspflichtige Kredite mit Zinsen. Die Kapitalmärkte sind frei, während die Grenzen für Menschen zu sind, welche Rolle werden sie spielen? Und weil die Krise sowohl auf der Angebots- wie der Nachfrageseite stattfindet, wird mit der Sicherung der Löhne und Unternehmen allein die Nachfrage nicht zurückkommen. Was es mittelfristig braucht und eigentlich in der Schublade sein sollte, ist ein Programm zum Umbau der Wirtschaft. Was es vorher schon gebraucht hätte: Die Reform des Wirtschafts- und Finanzsystems. Solche Ansätze müssen nun dringender und umfassender als bei der Finanzkrise von der Gesellschaft in die Politik getragen und eingefordert werden.
Was mir in diesen Tagen zuhause neben dem Sammeln von Notizen auch hilft, ist Blumen giessen. Mein Nachbar ennet dem Gartenhag, der aus der Finanzbranche kommt, kennt meine Sorgen nicht. Er geht davon aus, dass Bund und Nationalbank die Sache schon richten werden und Anfang Juni alles überstanden ist. Ich weiss nicht, ob mich das wirklich beruhigt,